Anhörung der sachverständigen Zeuginnen Seda Başay-Yıldız und Antonia von der Behrens

Am 04.07.2022 wurden die beiden Rechtsanwältinnen aus dem NSU-Prozess Seda Başay-Yıldız und Antonia von der Behrens vor dem NSU-Untersuchungsausschuss als sachverständige Zeuginnen gehört. Die Anhörung begann mit einem Vortrag von Başay-Yıldız, die Anwältin der Nebenklage für die Familie von Enver Şimşek im NSU-Prozess war. Sie erläuterte in ihren Ausführungen, dass die Ermittlungen im NSU-Komplex vorurteilsbeladen waren. Das machte sie anhand zahlreicher Beispiele aus den Ermittlungen deutlich.

So wurde z.B. die Familie des ermordeten Enver Şimşek bereits zwei Tage nach seinem Tod in Kenntnis darüber gesetzt, dass wegen Rauschgift ermittelt wird, obwohl es hierzu keine tatsächlichen Anhaltspunkte gab. Außerdem erfolgte eine Telefonüberwachung der Familie. In den Augen der ermittelnden Polizeibeamten hatte sich die Familie verdächtig gemacht, da sie sich mit der Äußerung eines Tatverdachts auffallend zurückgehalten hatte, was aus einem polizeilichen Vermerk hervorgeht, aus dem die Referentin zitiert. Die Ehefrau von Enver Şimşek wurde in einer polizeilichen Vernehmung vom 16.01.2001 sogar mit falschen Vorhaltungen konfrontiert, in denen behauptet wurde, dass ihr Ehemann eine Freundin gehabt hätte und in Drogengeschäfte verwickelt gewesen sei. Diese falschen Verdächtigungen waren nachvollziehbarerweise ein Schock für die trauernde Witwe. Die Referentin Seda Başay-Yıldız machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass es in den Ermittlungen jedoch zu keinem Zeitpunkt „tröstende Worte“ oder ein Verständnis für ihre Situation und Trauer gegeben habe. Auch eine von Frau Şimşek erhoffte Entschuldigung kam nie.

Anhand weiterer Beispiele zu den Ermittlungen im Umfeld der NSU-Mordopfer Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Ismail Yaşar, Mehmet Kubaşık und Theodoros Boulgarides machte die Referentin deutlich, dass deren Familie oder Freund*innen durch die Polizei stets nach möglichen Drogengeschäften der Mordopfer oder Verbindungen in die Organisierte Kriminalität gefragt wurden, obwohl es hierfür keine Anhaltspunkte gab. Hierbei zitierte Başay-Yıldız auch aus einer Vernehmung des besten Freundes und Geschäftspartners von Theodoros Boulgarides, der mit der falschen Behauptung konfrontiert wurde, dass sich in der Mordserie abgezeichnet hätte, „dass alle Opfer irgendwie mit Drogen zu tun hatten“ und er nun dazu Stellung nehmen solle.

Die vorurteilsbeladenen Ermittlungen veranschaulichte die Referentin außerdem durch Zitate aus der dritten operativen Fallanalyse des LKA Baden-Württembergs, die zur Mordserie des damals noch nicht öffentlich bekannten NSU erstellt wurde. Darin war zu einem möglichen Täter zu lesen: „Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems zu verortet ist.“ Die Referentin Başay-Yıldız merket hierzu an, dass diese Feststellung so gedeutet werden könnte, dass Deutsche dann wohl keine brutalen Serienmörder sein können. Dagegen wurde die zweite operative Fallanalyse für die Nürnberger BAO Bosporus aus dem Jahr 2006, die nach dem achten und neunten Mord eine „türkenfeindliche Gesinnung“ als Motiv, neben dem der organisierten Kriminalität für möglich gehalten hatte, lediglich wenige Monate ernsthaft verfolgt. Auch Hinweise der Opferfamilien auf einen rechtsradikalen Hintergrund der Taten wurden nicht ernsthaft verfolgt.

Insgesamt kommt Rechtsanwältin Başay-Yıldız daher zum Schluss, dass die Ermittlungsbehörden bei ihren Ermittlungen mit rassistischen Denk- und Handlungsstrukturen vorgegangen sind. Zudem gäbe es keinerlei Anhaltspunkte zu der Annahme, dass die Behörden nicht auch in Zukunft einseitig ermitteln werden. Im letzten Teil ihres Vortrags ging die Referentin noch auf die Tatorte des NSU in Nürnberg ein und erläuterte, dass in Anbetracht der logistischen Voraussetzungen des NSU-Kerntrios nichts dafür spricht, dass dieses die Ausspähungen in Nürnberg allein vorgenommen hat. Das machte sie mit Erläuterungen zu den einzelnen Tatorten sowie eines Asservats mit teilweise detaillierten Ausspähnotizen zu Objekten in der Stadt, das im Besitz des NSU Kerntrios gefunden wurden, sehr anschaulich deutlich.

Die zweite Referentin Antonia von der Behrens ging in ihrem Vortag zunächst auf das NSU-Verfahren vor dem OLG München ein, dass 2013 bis 2018 dauerte. Hierbei wies sie unter anderem darauf hin, dass zwar knapp 600 Zeug*innen und Sachverständige gehört wurden, es aber zugleich eine völlige Unterrepräsentation der Hinterbliebenen der Opfer im Prozess gab. Außerdem thematisierte sie in ihren Ausführungen den Sprengstoffanschlag auf Mehmet O. in Nürnberg aus dem Jahr 1999 und stellte in diesem Zusammenhang fest, dass bei den Ermittlungen zwar ein ermittelnder Kriminalhauptkommissar sofort einen Beamten vom Staatsschutz hinzugezogen hatte, weil sich der Anschlag gegen ein von einem ausländischen, türkischstämmigen Mitbürger geführte Lokal richtete, aber keine Anhaltspunkte gefunden wurden, weshalb ein terroristischer Anschlag ausgeschlossen wurde. Zudem ist es schwer nachvollziehbar, dass der Anschlag nur als versuchte fahrlässige Tötung und nicht als Mord gewertet wurde.

Im letzten Teil ihres Vortrags ging die Referentin auf V-Männer in Bayern im Umfeld des NSU ein. Hierbei erwähnte sie insbesondere noch offene Fragen im Fall des V-Manns Kai Dalek, bei dem bis heute nicht bekannt ist, ob er vielleicht sogar ein verdeckter Ermittler war. Außerdem informierte sie über den V-Mann Thomas Gerlach aus dem Führungszirkel der neonazistischen Hammerskins. Dieser wurde durch eine weitere V-Person in Zusammenhang mit dem NSU-Kerntrio gebracht, wobei unklar ist, wer diese hinweisgebende Person ist. Außerdem wies die Referentin darauf hin, dass z.B. aus Dokumenten zur Operation Rennsteig, an der auch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz (BayLV) beteiligt war, hervorgeht, dass es weitere V-Personen des BayLV gibt, die im Umfeld des NSU und seines Unterstützungsumfelds eingesetzt gewesen sein sollen.

Am Ende ihrer Ausführungen gab von der Behrens dem Untersuchungsausschuss noch Hinweise zu Akten und zu befragenden Personen, die aus ihrer Sicht von besonderer Relevanz für die Aufklärung des Untersuchungsauftrags des Untersuchungsausschusses wären. Nach den Vorträgen der beiden Referentinnen, beantworteten diese in einer Fragerunde noch die zahlreichen Fragen der Abgeordneten des Untersuchungsausschusses.

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