Die Sitzung des NSU-Untersuchungsausschuss am 07.07.2022 startete gleich mit einer inhaltlich brisanten Bekanntmachung des Ausschussvorsitzenden Toni Schuberl. Er teilte den Anwesenden mit, dass der Ausschuss durch das LKA Bayern darüber informiert worden war, dass es zu einer umfangreichen außerplanmäßigen Löschung von Daten im Fahndungssystem EASy der bayerischen Polizei gekommen ist.
Diese Daten wären jedoch durch das Löschmoratorium geschützt gewesen. Ausgerechnet am 20.10.2021, dem Tag, an dem im Innenausschuss des Landtags ein Antrag unserer Fraktion zur Verlängerung des Löschmoratoriums für polizeiliche Daten zum NSU-Komplex diskutiert und öffentlich verkündet wurde, dass Grüne und SPD einen zweiten NSU-UA einsetzen werden, wurde ein fehlerhaftes Skript in die Software eingespielt, welches das Löschmoratorium außer Kraft gesetzt hat. Dadurch wurden 560.000 Daten zu 29.000 Personen gelöscht, darunter mit Susann E mindestens eine Person, die für unseren Untersuchungsauftrag zentral ist.
Toni Schuberl wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es im NSU-Komplex bereits zu vielen derartigen ‚Zufällen‘ gekommen ist, bei denen es zu Aktenvernichtungen kam und nannte hierzu mehrere eindrückliche Beispiele. Darunter auch die bekannteste Operation „Konfetti“ beim BfV. Dabei wurden V-Mann-Akten im großen Stil wenige Tage nach der Selbstenttarnung des NSU vernichtet. Mit Blick auf die Datenlöschungen im LKA Bayern sagte Schuberl daher: „Ohne jemandem etwas unterstellen zu wollen, werden Sie verstehen, dass wir als Untersuchungsausschuss skeptisch bleiben und die genauen Umstände der Löschung untersuchen müssen.“
Der anschließend befragte LKA-Präsident Harald Pickert erläutere in Begleitung eines leitenden Kriminaldirektors die technischen Hintergründe dieser Löschung. Beide legten dar, dass die gelöschten Daten sehr wahrscheinlich vollständig wiederherstellbar sein werden, konnten das hinsichtlich so genannter „Randdaten“ aber nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Unklar blieb auch, weshalb der Mitarbeiter, der die Löschungen in Folge des fehlerhaften Skripts bemerkt hatte und diese sogleich stoppte, nicht unmittelbar Meldung an die Behördenleitung gemacht hatte. Denn in diesem Fall hätten alle Löschungen durch ein Back-Up rückgängig gemacht werden können.
Im Anschluss an eine kontroverse Fragerunde, folgte die Anhörung der sachverständigen Zeug*innen Clemens Binninger und Dorothea Marx. Binninger war Mitglied im ersten U-Ausschuss des Bundestags und Vorsitzender des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag. Marx leitete beide NSU-Untersuchungsausschüsse in Thüringen. Binninger, ging sehr kenntnisreich auf die Arbeitsweise der beiden Bundestagsuntersuchungsausschüsse ein und stellte die zentralen Erkenntnisse mit Bezug zu Bayern aus diesen Ausschüssen heraus. Hierzu zählte z.B. die 1996 durchgeführte Operation Rennsteig, bei der das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz und der Bundeswehrgeheimdienst MAD die Thüringer Neonaziszene ins Visier nahmen. Im Rahmen der Operation sollte das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz die rechtsextreme Organisation Fränkischer Heimatschutz beobachten und weitere Zielpersonen herausarbeiten. Binninger geht davon aus, dass hierzu weiterhin Akten im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz (BayLV) vorhanden sind, die für die Arbeit des bayerischen NSU-Untersuchungsausschuss relevant sein können.
Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt sind für ihn DNA-Spuren an den Tatorten des NSU in Bayern, weshalb er folgende Fragen aufwirft, die der Ausschuss näher untersuchen sollte: „Was ist mit den DNA-Spuren an den bayerischen Tatorten geschehen? Wie wurden sie abgeglichen?“ Außerdem empfahl Binninger dem Ausschuss dringend die Adresslisten des NSU mit möglichen Anschlagszielen im Original zu betrachten und Gutachten mit ungeschwärzten Namen zu untersuchen, die der Bundestagsuntersuchungsausschuss für die Tatorte des NSU zur örtlichen Neonaziszene anfertigen ließ. Hieraus könnten sich Anhaltspunkte für mögliche NSU-Unterstützer ergeben. Denn mit Blick auf den Sprengstoffanschlag in der Probsteigasse in Köln im Jahr 2001 auf ein Geschäft iranischstämmiger Besitzer, dass aber einen deutschen Namen trug, gab Binninger zu bedenken: „Wer bitte kommt aus Zwickau auf die Idee, jetzt fahren wir quer durch die Republik und platzieren eine Bombe in der Getränkehandlung ,Gerd Simon‘?“ Dieses sowie zahlreiche weitere Indizien legen für Clemens Binninger den Schluss nahe, dass der NSU wahrscheinlich kein Trio war, wenngleich er im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex generell vor kategorischen Festlegungen warnt.
Dorothea Marx ergänzte die Ausführungen Binningers anschließend und empfahl dem NSU-Untersuchungsausschuss insbesondere das Strukturermittlungsverfahren gegen Kai Dalek näher zu untersuchen, aber auch seinen V-Mann-Führer zu befragen, ebenso wie den V-Mann-Führer von Ralf Marschner. Außerdem sollte der Ausschuss Behördenleitungen zu der Aktenvernichtungsaktion Aktion „Konfetti“ befragen, da es in den vernichteten Akten vermutlich auch Informationen zu bayerischen V-Leuten gegeben haben könnte. Marx wirft die Frage auf, „ob das BfV und BayLfV nach all den Jahren nicht einmal etwas auskunftsfreudiger sein könnten“. Zumal zu bedenken sei, dass mittlerweile selbst diesbezügliche Dienstvergehen längst verjährt sind. Im Anschluss an die Vorträge beantworteten Clemens Binninger und Dorothea Marx noch ausführlich die Fragen der Abgeordneten.
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